Gastbeitrag: Die Prägekraft des Europäischen Wirtschaftsrechts im Wandel der Zeit

12.05.2025

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Markus Ludwigs, Herausgeber des Handbuchs des EU-Wirtschaftsrechts.

Zu den meist zitierten und oft falsch wiedergegebenen Aussagen des großen Europäers und früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors zählt die am 6. Juli 1988 in einer Rede vor dem Europäischen Parlament formulierte Prognose, wonach „[i]n zehn Jahren (…) 80 % der Wirtschaftsgesetzgebung (…) gemeinschaftlichen Ursprungs sein [werden]“ (Anhang zum ABl. EG 1988, Nr. 2-367, S. 154, 157 l. Sp.). Zwar zeigen empirische Untersuchungen, dass sich diese Prophezeiung bislang noch nicht in voller Breite verwirklicht hat (hierzu etwa Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011, S. 309 ff. m.w.N.).

Die zunehmende Prägung des Wirtschaftsrechts in den Mitgliedstaaten durch ein immer dichteres Geflecht an unionsrechtlichen Rechtsakten ist aber unverkennbar. Hinzu treten vielgestaltige Vorgaben und unmittelbar anwendbare Garantien des europäischen Primärrechts.

Diese reichen von den Grundfreiheiten und Wirtschaftsgrundrechten über das supranationale Kartell- und Beihilfenrecht bis hin zur Errichtung einer „Wirtschafts- und Währungsunion“. Bei alledem entzieht sich die facettenreiche Materie einer klaren Einordnung in die überkommenen Fachsäulen und umfasst Normen sowohl des Öffentlichen Rechts als auch des Privatrechts und des Strafrechts.

Manfred A. Dauses hat den Bedarf nach einer systematischen, das Fallrecht des Europäischen Gerichtshofs umfassend einbeziehenden Aufbereitung der intradisziplinären Materie frühzeitig erkannt und bereits im Jahr 1993 das damals noch einbändige „Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts“ begründet. Kurz zuvor war der Binnenmarkt Wirklichkeit geworden und mit dem Vertrag von Maastricht stand das bis dato umfassendste Reformwerk der damaligen Gemeinschaft vor dem Inkrafttreten.

Vor diesem Hintergrund reichte es nicht mehr aus, nur die Grundlagen des Gemeinschaftsrechts zu beherrschen. Um den Anforderungen des immer komplexer werdenden Mehrebenensystems gerecht zu werden, mussten sich „europäische Juristen“ (zum Leitbild instruktiv Voßkuhle, RW 2010, 326 ff.) vielmehr schon damals mit den Verästelungen auf den verschiedenen wirtschaftsbezogenen Gebieten vertraut machen. Das Handbuch sollte hierfür eine Grundlage schaffen (so schon Dauses im Vorwort aus dem Februar 1993).

Zunehmende Komplexitätssteigerung im EU-Wirtschaftsrecht 

Rund 32 Jahre und drei große Vertragsreformen später, sind die Aufgaben und Herausforderungen, vor denen der Integrationsprozess steht, nicht kleiner geworden. Die Europäische Union kämpft seit den 2000er-Jahren mit multiplen Krisen, die von der „Euro-Krise“ über die „Migrationskrise“ und den Brexit bis hin zur „Klimakrise“ und einer drohenden Spaltung der Wertegemeinschaft reichen. Hinzu treten neuartige, rechtsgebietsübergreifende Transformationsphänomene wie die Digitalisierung und die Energiewende.

Im Zuge der jüngsten politischen Entwicklungen rückt überdies das Außenhandelsrecht der EU verstärkt in den Fokus. Mit alledem geht eine Komplexitätssteigerung des durch zunehmende Ebenenverflechtung geprägten Regelungsrahmens im heutigen EU-Wirtschaftsrecht einher. Folgerichtig ist auch der Umfang des Handbuchs von rund 1.700 auf nahezu 6.000 Seiten angewachsen.

Die 62. Auflage führt nun erstmals zu einer grundlegenden Anpassung der Werkstruktur. Den Hintergrund bildet eine zunehmende Verlagerung der Nutzung auf die elektronische Fassung in der Datenbank beck-online. Um die Anwendungsfreundlichkeit der digitalen Inhalte zu optimieren, erhält das Handbuch eine moderne Ordnung. Darin stehen auf oberster Ebene neunzehn Kapitel, denen fortlaufend nach Paragrafen gegliederte Abschnitte zugeordnet sind. Parallel hierzu erfolgt eine Erweiterung des Printwerks um einen dritten Band.

Werk auf der Höhe der Zeit

Damit wird die Möglichkeit eröffnet, weitere praxisrelevante Themenfelder des EU-Wirtschaftsrechts zu erschließen. Den Anfang macht Mitte 2025 die 63. Auflage mit drei völlig neuen Abschnitten zum Digital Markets Act, zu den Grundlagen des Datenrechts und zum Datenschutzrecht. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass sich das Werk bei allen Wandlungsprozessen weiter stets auf der Höhe der Zeit befindet.

Eine Zäsur bedeutet die Werkumstellung schließlich auch insoweit, als ich nach über 20 betreuten Auflagen künftig als alleiniger Namensgeber des Handbuchs firmieren werde. Hierin liegen Ansporn und Verantwortung zugleich, das Werk auch im Sinne von Manfred A. Dauses, dem wir ein ehrendes Andenken bewahren, in die Zukunft zu führen!

Weitere Infos zu Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts.

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